Freitag, 10. Februar 2017

Offline ist das neue Freisein

In unserem Haus gibt es eine interessante Installation: Eine separate, zeitgesteuerte Sicherung, an der die Stromversorgung für WLAN-Router und damit verbundene Geräte hängt. Ergebnis: jede Nacht sind wir fünf Stunden absolut offline. Anfangs erschien mir diese Schaltung wie eine Beschneidung meiner Freiheit. Was, wenn ich mitten in der Nacht etwas googeln möchte? Oder jemandem eine E-Mail schreiben? Das wäre kein Problem, erklärte mein Liebster, die Sicherung lasse sich manuell mit einem einfachen Knopfdruck wieder einschalten. 

Ich bin kein virtueller Mülleimer!
Inzwischen nutze ich diesen Knopf regelmäßig, allerdings in umgekehrter Richtung. Spätestens morgens um 9 Uhr, wenn meine Schreibzeit beginnt, gehe ich offline. Da wir hier in unserem Tal kein Handynetz haben, bin ich dann nur noch für Festnetztelefon, Postboten und Brieftauben erreichbar. Ein herrliches Gefühl! Die Gedanken bleiben dort, wo sie sein sollen - bei mir. Einzig mein Willen und meine Phantasie schicken sie auf die Reise, wohin ich möchte oder wohin ich mich treiben lasse. Unbeeinflusst von Werbung für Appartements in Toulouse oder skandinavische Winterleggings, in denen jede Frau einen Nilpferdpopo hat. Fotos vom Mittagessen virtueller Freunde erzeugen bei mir kein Hungergefühl ,und es bedarf keiner Schockbilder extremer Tierschützer, um dieses wieder zu vertreiben. Kein doppeltes blaues Häkchen suggeriert meinen Whatsapp-Kontakten, dass ich ihre Nachricht erhalten und gelesen habe, aber anscheinend zu beschäftigt, arrogant oder sauer bin, um darauf zu antworten. Und dann diese Filmchen! Lustige Tiervideos, grellbunte Naturbilder mit motivierenden Gedanken oder Sketche a la Ladykracher gehören noch zur harmlosen Sorte. Live Aufnahmen, z.B. aus der Helmkamera eines Motorradfahrers, der einen schweren Unfall hat, oder Schlimmeres will ich gar nicht sehen. Wenn ich mir vorstelle, dass in meinem Kopf genau 100 winzige Männchen die Gedanken hin und her schieben, in klemmenden Schubladen nach Erinnerungen kramen, diese mit meinen Erfahrungen und Gefühlen verknüpfen und daraus Geschichten weben ... dann ist es doch eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen, wenn 20, 30, 50 oder mehr von ihnen, anstatt kreativ zu sein, als Müllmänner agieren müssen. Mit großen Besen fegen sie die Horrorbilder aus meinen Gehirnwindungen, gleich mehrere von ihnen versuchen verzweifelt, die aufspringenden Schubladen meines Gedächtnisses zu schließen, in die sich gruselige Zitate despotischer Präsidenten, Werbung für das neueste Buch eines meiner 257 Autorenkollegen oder einhunderttausend niedlicher Katzenbilchen und -Videos quetschen wollen. 

Aber wenn es stimmt?! 
Die unsäglichen Kettenbriefe meiner Kindheit wurden dank Social Media wiederbelebt und werden meiner Erfahrung nach zu 99 % von Frauen über 40 weitergeleitet. »Wenn Du diese Nachricht nicht sofort an mindestens sieben Freunde weiter sendest, die genau so doof sind wie Du, wird sich entweder das Internet selbst zerstören oder Du darfst nie wieder Schokolade essen. Das stand sogar im Fernsehen!« Anfangs habe ich noch freundlich nachgefragt, warum mir A solchen Text schickte, nur um zu erfahren, dass sie ihn von B bekam, die es wissen müsse, schließlich habe diese die Nachricht von C bekommen. Muss ich erwähnen, dass natürlich B, C, D usw. mir alle denselben Text schickten? Sicher ist sicher, vielleicht stimmt es ja doch. Das mit dem Internet oder mit der Schokolade. Nicht auszudenken - daran will nun wirklich niemand schuld sein. 

Man liked mich, also bin ich
Das Buhlen um Like-Daumen und Gefällt-mir-Angaben ist ein weiteres Phänomen und ich gebe zu, auch ich verfalle ihm von Zeit zu Zeit. Das überaus gelungene Naturfoto aus unsrem Tal, eine sehr witzige Begebenheit mit meinen Tieren oder eine Video-Botschaft, die mein Herz sooo berührt hat - all das sind Erlebnisse, die Emotionen in mir auslösen, so groß, dass ich sie hinausschreien, mit anderen teilen möchte. Schmälert es den Wert dieser Erlebnisse für mich, wenn nur eine Handvoll Leute auf Facebook »gefällt mir« drücken? Oder wird der besondere Augenblick noch besonderer, wenn hunderte Menschen ihn »liken«? Oder ist das Außergewöhnliche gerade deshalb so einzigartig, weil es mir allein gehört und ich diesen Moment nur mit ganz wenigen Menschen teile? Lob hat mich schon immer beflügelt. Es streichelt die Seele, gibt mir das Gefühl, ein guter, liebenswerter, wertvoller Mensch zu sein, der gerade etwas ziemlich richtig gemacht hat. Wenn ich mit mir selbst im Reinen bin, weiß ich, dass ich wertvoll bin, gute Dinge tue. Braucht es dann wirklich noch die »gefällt-mir-Daumen« von Max Mustermann und Olga Ohnemuster, denen ich beiden noch nie persönlich begegnet bin, um mich auch nur ein bisschen besser zu fühlen?  

Es gab schon immer Alternativen
Kritiker werden sagen: Aber du vereinsamst doch, wenn du dich jetzt auch noch aus der virtuellen Welt zurückziehst! Vielleicht möchte ich einfach Alternativen suchen? Ich habe die erste Hälfte meines bisherigen Lebens offline verbracht und hatte keinen Grund, deswegen unglücklich zu sein. Statt auf Facebook durch Dutzende für mich uninteressante Beiträge zu scrollen, bis ich Susis tolles Foto entdecke und auf »gefällt mir« klicken kann, sage ich ihr lieber, wenn wir uns das nächste Mal sehen: »Du siehst toll aus heute.« Und statt zwanzig Nachrichten a la »Dieser niedliche Delphin wünscht dir einen schönen Mittwoch«, zu beantworten, schreibe ich lieber einen Brief oder eine hübsche Postkarte an jemanden, den ich lange nicht gesehen habe. In der Zeit, in der ich mich durch lustige, motivierende oder berührende Videos klicke, kann ich jemanden anrufen, den ich vermisse und fragen: »Hey, wie geht es dir?« Vielleicht erzählt mir dieser Mensch ja, was ihm Lustiges passiert ist, berührt mich mit seinen Worten, inspiriert mich zu neuen Zeilen?
Das alles klingt  toll in der Theorie. Praktisch stehe ich aber mit vielen lieben Menschen fast ausschließlich online in Verbindung. Das ist zum Einen Grund, doch regelmäßig, wenn auch nicht mehr so oft, bei Facebook & Co. vorbeizuschauen. Und zum Anderen Motivation, meine offline Freundschaftspflege zu verstärken. Ich krame jetzt das Briefpapier heraus ...
© Jo Jansen 2017



1 Kommentar:

  1. Toll geschrieben und so wahr. Ich werde mal ein paar Postkarten auf den Weg bringen. Vielleicht bekomme ja mal was anderes ausser langweilige Rechnungen in den Briefkasten.
    Stine

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